Die Kün­di­gung von schwer­be­hin­der­ten oder gleich­ge­stell­ten Beschäf­tig­ten bedarf nach § 85 Neun­tes Buch Sozi­al­ge­setz­buch (SGB IX) der vor­he­ri­gen Zustim­mung des Inte­gra­ti­ons­am­tes. Das gilt auch für die außer­or­dent­li­che Kündigung.

1. Vor­he­ri­ge Zustim­mung durch das Integrationsamt

Eine ohne vor­he­ri­ge Zustim­mung des Inte­gra­ti­ons­amts aus­ge­spro­che­ne Kün­di­gung ist nach § 134 Bür­ger­li­ches Gesetz­buch (BGB) nich­tig und „offen­sicht­lich unwirk­sam“. Nach stän­di­ger Recht­spre­chung des Bun­des­ar­beits­ge­richts (BAG) ent­steht bei einer offen­sicht­lich unwirk­sa­men Kün­di­gung ab Erhe­bung der Kün­di­gungs­schutz­kla­ge ein all­ge­mei­ner Wei­ter­be­schäf­ti­gungs­an­spruch bis zu einer rechts­kräf­ti­gen gericht­li­chen Ent­schei­dung (BAG Gro­ßer Senat v. 27.2.1985 — GS 1/84 -, BAGE 48,122).

Die Zustim­mung zu einer außer­or­dent­li­chen Kün­di­gung kann nur inner­halb von zwei Wochen ab Kennt­nis der Kün­di­gungs­grün­de bean­tragt wer­den (§ 91 Abs. 2 SGB IX). Das Inte­gra­ti­ons­amt muss sei­ne Ent­schei­dung dann inner­halb von 2 Wochen tref­fen, andern­falls gilt die Zustim­mung als erteilt (§ 91 Abs. 3 SGB IX). Die Arbeit­ge­be­rin oder der Arbeit­ge­ber kann die Kün­di­gung nur inner­halb eines Monats nach Zustim­mung des Inte­gra­ti­ons­am­tes aus­spre­chen (§ 88 Abs. 3 SGB IX).

Der beson­de­re Kün­di­gungs­schutz des § 85 SGB IX gilt nicht inner­halb der ers­ten sechs Mona­te eines Arbeits­ver­hält­nis­ses (§ 90 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX). Zustim­mungs­frei sind fer­ner u.a. Kün­di­gun­gen von Beschäf­tig­ten nach Voll­endung des 58. Lebens­jah­res bei sozia­ler Absi­che­rung, sofern die Betrof­fe­nen der Kün­di­gung nicht wider­spre­chen (90 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a) SGB IX). Auch kann der beson­de­re Kün­di­gungs­schutz wegen unzu­läs­si­ger Rechts­aus­übung im Ein­zel­fall aus­ge­schlos­sen sein. Dies hat das BAG in einem Fall ange­nom­men, in dem der Beschäf­tig­te sei­ne Schwer­be­hin­de­rung gegen­über sei­nem Arbeit­ge­ber auf aus­drück­li­che Nach­fra­ge nicht offen­bar­te (BAG v. 16.2.2012 — 2 AZR 553/10 -, NJW 2012, 2058). Im Insol­venz­ver­fah­ren wur­de der schwer­be­hin­der­te Beschäf­tig­te betriebs­be­dingt ohne Zustim­mung des Inte­gra­ti­ons­am­tes gekün­digt. Nach der Ent­schei­dung des BAG war es dem Beschäf­tig­ten infol­ge der wahr­heits­wid­ri­gen Beant­wor­tung der ihm recht­mä­ßig gestell­ten Fra­ge nach sei­ner Schwer­be­hin­de­rung unter dem Gesichts­punkt wider­sprüch­li­chen Ver­hal­tens ver­wehrt, sich im Kün­di­gungs­schutz­ver­fah­ren auf sei­ne Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft zu berufen.

2. Betei­li­gung der Schwerbehindertenvertretung

Vor der Ein­lei­tung des Zustim­mungs­ver­fah­rens beim Inte­gra­ti­ons­amt haben Arbeit­ge­be­rin­nen und Arbeit­ge­ber die Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung recht­zei­tig und umfas­send zu unter­rich­ten und anzu­hö­ren (§ 95 Abs. 2 S. 1 SGB IX). Die getrof­fe­ne Ent­schei­dung ist der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung unver­züg­lich mit­zu­tei­len. Eine Nicht­be­tei­li­gung oder nicht ord­nungs­ge­mä­ße Betei­li­gung der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung führt nicht zur Unwirk­sam­keit der Kün­di­gung. Eine ohne Betei­li­gung der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung getrof­fe­ne Ent­schei­dung ist aber aus­zu­set­zen. Die Betei­li­gung der Schwer­be­hin­der­ten­ver­tre­tung ist dann vor einer end­gül­ti­gen Ent­schei­dung inner­halb von sie­ben Tagen nach­zu­ho­len (§ 95 Abs. 2 S. 2 SGB IX). Ver­let­zen Arbeit­ge­be­rin­nen und Arbeit­ge­ber die­se Pflich­ten, kann eine Geld­bu­ße ver­hängt wer­den (§ 156 Abs. 1 Nr. 9 SGB IX).

3. Ent­schei­dung des Integrationsamtes

Das Inte­gra­ti­ons­amt hat den Sach­ver­halt von Amts wegen erschöp­fend zu ermit­teln. Über die Ertei­lung der Zustim­mung zur Kün­di­gung ent­schei­det es nach pflicht­ge­mä­ßem Ermes­sen, soweit das Ermes­sen nicht nach § 89 SGB IX ein­ge­schränkt ist.

Bei sei­ner Ermes­sens­ent­schei­dung hat das Inte­gra­ti­ons­amt die wider­strei­ten­den Inter­es­sen der schwer­be­hin­der­ten oder gleich­ge­stell­ten Beschäf­tig­ten an der Erhal­tung ihres Arbeits­plat­zes und das Inter­es­se der Arbeit­ge­be­rin­nen und Arbeit­ge­ber, die Arbeits­plät­ze wirt­schaft­lich zu nut­zen, nach dem Maß­stab der Zumut­bar­keit gegen­ein­an­der abzu­wä­gen (Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt (BVerwG) v. 19.10.1995 — 5 C 24.93 -, BVerw­GE 99, 336 (338)). An die Für­sor­ge­pflicht der Arbeit­ge­be­rin­nen und Arbeit­ge­ber und den Maß­stab der Zumut­bar­keit sind beson­ders hohe Anfor­de­run­gen zu stel­len, wenn die Kün­di­gung auf Grün­de gestützt wer­den soll, die mit der Behin­de­rung oder Gleich­stel­lung in Zusam­men­hang ste­hen. Eine Zustim­mung des Inte­gra­ti­ons­am­tes kommt nur dann in Betracht, wenn alle ande­ren Mög­lich­kei­ten für den Erhalt des Arbeits­plat­zes zuvor unter­sucht und aus­ge­schöpft wur­den. So haben Arbeit­ge­be­rin­nen und Arbeit­ge­ber zunächst einen lei­dens­ge­rech­ten Arbeits­platz frei zu machen, soweit dies z.B. durch Umver­tei­lung von Auf­ga­ben mach­bar ist.

Weit­ge­hend ein­ge­schränkt ist das Ermes­sen des Inte­gra­ti­ons­am­tes bei einer Betriebs­stil­le­gung § (89 Abs. 1 S. 1 SGB IX), bei einer wesent­li­chen Betriebs­ein­schrän­kung (89 Abs. 1 S. 2 SGB IX) und wenn dem schwer­be­hin­der­ten Men­schen ein ande­rer ange­mes­se­ner und zumut­ba­rer Arbeits­platz gesi­chert ist (89 Abs. 2 SGB IX). Bei einer außer­or­dent­li­chen Kün­di­gung soll das Inte­gra­ti­ons­amt die Zustim­mung ertei­len, wenn die Kün­di­gung aus einem Grund erfolgt, der nicht im Zusam­men­hang mit der Behin­de­rung steht (§ 91 Abs. 4 SGB IX).

4. Rechts­schutz

Die Ent­schei­dung des Inte­gra­ti­ons­am­tes ist ein Ver­wal­tungs­akt. Dage­gen kön­nen die Arbeit­ge­be­rin­nen und Arbeit­ge­ber wie auch die betrof­fe­nen Beschäf­tig­te Wider­spruch ein­le­gen (§ 118 SGB IX). Über den Wider­spruch ent­schei­det der beim Inte­gra­ti­ons­amt gebil­de­te Wider­spruchs­aus­schuss. Gegen den Wider­spruchs­be­scheid kann Anfech­tungs­kla­ge vor dem Ver­wal­tungs­ge­richt erho­ben werden.

Wider­spruch und Anfech­tungs­kla­ge gegen die Zustim­mung des Inte­gra­ti­ons­am­tes haben kei­ne auf­schie­ben­de Wir­kung (§ 88 Abs. 4 SGB IX). Arbeit­ge­be­rin­nen und Arbeit­ge­ber kön­nen also auch bei Wider­spruch und Anfech­tungs­kla­ge der schwer­be­hin­der­ten oder gleich­ge­stell­ten Beschäf­tig­ten gegen die erteil­te Zustim­mung des Inte­gra­ti­ons­am­tes die Kün­di­gung aus­spre­chen. Wird die Zustim­mung des Inte­gra­ti­ons­am­tes spä­ter rechts­kräf­tig auf­ge­ho­ben, wird die Kün­di­gung rück­wir­kend unwirk­sam. Die ver­wal­tungs­ge­richt­li­che Kon­trol­le beschränkt sich auf die Prü­fung, ob das Inte­gra­ti­ons­amt von einem aus­rei­chend ermit­tel­ten und zutref­fen­den Sach­ver­halt aus­ge­gan­gen ist und ob es sein Ermes­sen feh­ler­frei aus­ge­übt hat.

Gegen eine mit Zustim­mung des Inte­gra­ti­ons­am­tes aus­ge­spro­che­ne Kün­di­gung der Arbeit­ge­be­rin oder des Arbeit­ge­bers kön­nen schwer­be­hin­der­te oder gleich­ge­stell­te Beschäf­tig­te Kün­di­gungs­schutz­kla­ge beim Arbeits­ge­richt inner­halb von drei Wochen nach Zugang der Kün­di­gung erhe­ben (§ 4 Kün­di­gungs­schutz­ge­setz (KSchG)). Das Arbeits­ge­richt ist, was die Wirk­sam­keit der Zustim­mung des Inte­gra­ti­ons­amts zur Kün­di­gung angeht, an die Ent­schei­dun­gen der Ver­wal­tung und Ver­wal­tungs­ge­rich­te gebun­den. Die ein­mal erteil­te Zustim­mung zur Kün­di­gung bleibt so lan­ge wirk­sam, wie sie nicht vom Wider­spruchs­aus­schuss bestands­kräf­tig oder von einem Ver­wal­tungs­ge­richt rechts­kräf­tig auf­ge­ho­ben wor­den ist (BAG v. 23.5.2013 — 2 AZR 991/11 -, BAGE 145, 199). Übli­cher­wei­se ist mit einer län­ge­ren Ver­fah­rens­dau­er im ver­wal­tungs­ge­richt­li­chen Ver­fah­ren zu rech­nen. Wegen des Beschleu­ni­gungs­ge­bo­tes im arbeits­ge­richt­li­chen Ver­fah­ren ent­schei­den die Arbeits­ge­rich­te daher in der Regel über die Kün­di­gungs­schutz­kla­ge ohne Rück­sicht auf den Fort­gang des ver­wal­tungs­ge­richt­li­chen Ver­fah­rens. Für den Fall, dass die Kün­di­gungs­schutz­kla­ge zum Zeit­punkt, in dem der Zustim­mungs­be­scheid im ver­wal­tungs­ge­richt­li­che Ver­fah­ren rechts­kräf­tig auf­ge­ho­ben wird, bereits rechts­kräf­tig abge­wie­sen ist, haben schwer­be­hin­der­te oder gleich­ge­stell­te Beschäf­tig­te einen Anspruch auf Wie­der­auf­nah­me des Kün­di­gungs­schutz­ver­fah­rens in ent­spre­chen­der Anwen­dung des § 580 Nr. 6 Zivil­pro­zess­ord­nung (BAG v. 29.9.2011 — 2 AZR 674/10 -, BAGE 133, 149).

5. Berück­sich­ti­gung der Schwer­be­hin­de­rung im Rah­men der Sozialauswahl

Bei einer betriebs­be­ding­ten Kün­di­gung ist im Rah­men der Sozi­al­aus­wahl unter meh­re­ren für eine Ent­las­sung in Betracht kom­men­den und ver­gleich­ba­ren Beschäf­tig­ten die Schwer­be­hin­de­rung neben der Dau­er der Betriebs­zu­ge­hö­rig­keit, dem Lebens­al­ter und Unter­halts­pflich­ten als Sozi­al­kri­te­ri­um mit zu berück­sich­ti­gen (§ 1 Abs. 3 S. 1 KSchG). Das gilt nicht für die ers­ten sechs Mona­te eines Arbeits­ver­hält­nis­ses, da inso­weit der Kün­di­gungs­schutz des § 1 KSchG noch nicht ein­greift. Die Zustim­mung des Inte­gra­ti­ons­am­tes zur Kün­di­gung ist Vor­aus­set­zung dafür, dass schwer­be­hin­der­te oder gleich­ge­stell­te Beschäf­tig­te in die Prü­fung, ob Ver­gleich­bar­keit vor­liegt, und in die Sozi­al­aus­wahl nach § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG ein­be­zo­gen wer­den kön­nen. Das gilt nur nicht für die Fäl­le des § 90 SGB IX, in denen eine Zustim­mung des Inte­gra­ti­ons­am­tes aus­nahms­wei­se nicht erfor­der­lich ist.

Für die Prü­fung und Ent­schei­dung des Inte­gra­ti­ons­am­tes zur Fra­ge, ob eine Kün­di­gung zustim­mungs­fä­hig ist, kann die Sozi­al­aus­wahl nur aus­nahms­wei­se Bedeu­tung haben. Das ist z.B. der Fall, wenn schwer­be­hin­der­ten oder gleich­ge­stell­ten Beschäf­tig­ten gekün­digt wer­den soll, obschon auf den ers­ten Blick ver­gleich­ba­ren ande­ren Beschäf­tig­ten nicht gekün­digt wird, die gegen­über den schwer­be­hin­der­ten oder gleich­ge­stell­ten Beschäf­tig­ten evi­dent weni­ger sozi­al schutz­be­dürf­tig sind.