Bei Ein­stel­lun­gen und Beför­de­run­gen hat der Dienst­herr im Rah­men der Eig­nungs­prü­fung nach Art. 33 Abs. 2 Grund­ge­setz (GG) immer auch eine Ent­schei­dung dar­über zu tref­fen, ob die Bewer­be­rin­nen und Bewer­ber den Anfor­de­run­gen des jewei­li­gen Amtes in gesund­heit­li­cher Hin­sicht ent­spre­chen. Bei der Prü­fung der gesund­heit­li­chen Eig­nung ist eine Pro­gno­se bis zum Errei­chen der gesetz­li­chen Alters­gren­ze zu tref­fen. Dazu hat das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt nach neue­rer Recht­spre­chung einen abge­senk­ten Pro­gno­se­maß­stab festgelegt.

1. Eig­nungs­prü­fung

Geeig­net i.S. des Art. 33 Abs. 2 GG sind Beamtenbewerber/innen, wenn sie dem ange­streb­ten Amt nicht nur in fach­li­cher, son­dern auch in kör­per­li­cher und psy­chi­scher Hin­sicht gewach­sen sind (Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt (BVerfG) v. 10.12.2008 — 2 BvR 2571/07 -, juris Rn. 11, 14; OVG Nord­rhein-West­fa­len v. 01.02.2013 — 6 B 1196/12 -, juris Rn. 4 ff). Ist nach der kör­per­li­chen oder psy­chi­schen Ver­fas­sung der Bewer­be­rin oder des Bewer­bers die gesund­heit­li­che Eig­nung nicht gege­ben, ist eine Ver­be­am­tung unab­hän­gig von der fach­li­chen Eig­nung ausgeschlossen.

Die Fra­ge der gesund­heit­li­chen Eig­nung hat ins­be­son­de­re für fol­gen­de beam­ten­recht­li­che Ent­schei­dun­gen Bedeutung:
  • Ver­be­am­tung auf Pro­be (Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt (BVerwG) v. 25.07.2013 — 2 C 12.11 -, juris, BVerw­GE 147, 244)
  • Ver­be­am­tung auf Lebens­zeit; Ent­las­sung einer Beam­tin oder eines Beam­ten auf Pro­be wegen man­geln­der gesund­heit­li­cher Eig­nung (BVerwG v. 30.10.2013 — 2 C 16.12 -, juris, BVerw­GE 148, 204)
  • Ver­be­am­tung auf Wider­ruf zur Ableis­tung eines Vor­be­rei­tungs­diensts zum Erwerb einer Lauf­bahn­be­fä­hi­gung wie z.B. für den Poli­zei­voll­zugs­dienst. Etwas ande­res gilt nur für Vor­be­rei­tungs­diens­te, die wie die Refe­ren­dar­aus­bil­dung von Leh­re­rin­nen und Leh­rern oder Juris­tin­nen und Juris­ten auch den Zugang zu Beru­fen außer­halb des Staats­diens­tes ver­mit­teln (Säch­si­sches OVG v. 12.09.2013 — 2 B 431/13 -, juris Rn. 7, 10).
Im Rah­men von Per­so­nal­aus­wahl­ent­schei­dun­gen kön­nen begrün­de­te Zwei­fel an der gesund­heit­li­chen Eig­nung von Beförderungsbewerber/innen, z.B. auf­grund lan­ger Erkran­kung, zum Aus­schluss vom Aus­wahl­ver­fah­ren füh­ren (OVG Nord­rhein-West­fa­len v. 01.09.2014 — 1 B 745/14 -, juris Rn. 11 ff).

2. Neu­er Pro­gno­se­maß­stab des BVerwG (Ände­rung der Rechtsprechung)

Der Dienst­herr hat die gesund­heit­li­che Eig­nung von Beamtenbewerber/innen für das ange­streb­te Amt nicht nur nach gegen­wär­ti­gem Stand, son­dern auch für die künf­ti­ge Amts­tä­tig­keit zu prü­fen. Die Prü­fung ent­hält damit eine pro­gnos­ti­sche Ein­schät­zung, die den Zeit­raum bis zum Errei­chen der gesetz­li­chen Alters­gren­ze erfasst. Die­se Pro­gno­se ist erfor­der­lich, um ein aus­ge­wo­ge­nes Ver­hält­nis von Lebens­dienst­zeit und Ruhe­stands­zeit sicherzustellen.

Nach frü­he­rer Recht­spre­chung des BVerwG fehl­te es an der gesund­heit­li­chen Eig­nung der Beamtenbewerber/innen, wenn die Mög­lich­keit künf­ti­ger Erkran­kun­gen oder des Ein­tritts der dau­ern­den Dienst­un­fä­hig­keit vor Errei­chen der gesetz­li­chen Alters­gren­ze nicht mit einem hohen Grad an Wahr­schein­lich­keit aus­ge­schlos­sen wer­den konn­te (BVerwG v. 23.04.2009 — 2 B 79.08 -, juris). Damit konn­ten bereits gerin­ge gesund­heit­li­che Ein­schrän­kun­gen dazu füh­ren, dass Beamtenbewerber/innen nicht ein­ge­stellt wur­den. Die nega­ti­ve Eig­nungs­pro­gno­se konn­te in Fäl­len, in denen die aktu­el­le gesund­heit­li­che Leis­tungs­fä­hig­keit nicht beein­träch­tigt war, mit Typi­sie­run­gen und sta­tis­ti­schen Wahr­schein­lich­kei­ten begrün­det wer­den, die weder einem Gegen­be­weis noch einer nach­träg­li­chen Kor­rek­tur zugäng­lich waren (BVerwG v. 25.07.2013 — 2 C 12.11 -, juris Rn. 17, BVerw­GE 147, 244).

Nach neue­rer Recht­spre­chung wen­det das BVerwG zuguns­ten Beamtenbewerber/innen fol­gen­den abge­senk­ten Pro­gno­se­maß­stab an:

  • Beamtenbewerber/innen, deren gesund­heit­li­che Leis­tungs­fä­hig­keit aktu­ell nicht ein­ge­schränkt ist, fehlt die gesund­heit­li­che Eig­nung, wenn tat­säch­li­che Anhalts­punk­te die Annah­me recht­fer­ti­gen, dass sie mit über­wie­gen­der Wahr­schein­lich­keit vor Errei­chen der gesetz­li­chen Alters­gren­ze wegen dau­ern­der Dienst­un­fä­hig­keit vor­zei­tig in den Ruhe­stand ver­setzt wer­den (BVerwG v. 25.07.2013 — 2 C 12.11 -, juris Rn. 16, BVerw­GE 147, 244 und BVerwG v. 25.07.2013 — 2 C 18.12 -, juris Rn. 16). Das gilt auch für aktu­ell dienst­fä­hi­ge Bewerber/innen, die zum Zeit­punkt der Ein­stel­lung einer Risi­ko­grup­pe ange­hö­ren oder an einer chro­ni­schen Erkran­kung mit pro­gre­di­en­tem Ver­lauf lei­den (BVerwG v. 25.07.2013 — 2 C 12.11 -, juris Rn 13).
  • Eine gesund­heit­li­che Eig­nung fehlt dienst­fä­hi­gen Beamtenbewerber/innen auch dann, wenn tat­säch­li­che Anhalts­punk­te die Annah­me recht­fer­ti­gen, dass sie mit über­wie­gen­der Wahr­schein­lich­keit zwar die gesetz­li­che Alters­gren­ze errei­chen wer­den, aber bis zum Errei­chen der gesetz­li­chen Alters­gren­ze über Jah­re hin­weg regel­mä­ßig krank­heits­be­dingt aus­fal­len und des­halb eine erheb­lich gerin­ge­re Lebens­dienst­zeit auf­wei­sen wer­den (BVerwG v. 30.10.2013 — 2 C 16.12 -, juris Rn. 26, Vor­lie­gen eines chro­ni­schen Schmerz­syn­droms). Die wahr­schein­lich erwart­ba­ren Fehl­zei­ten müs­sen in der Sum­me ein Aus­maß errei­chen, das einer Pen­sio­nie­rung wegen Dienst­un­fä­hig­keit etli­che Jah­re vor Errei­chen der gesetz­li­chen Alters­gren­ze gleichkommt.
  • Dem Dienst­herrn steht bei der Fra­ge, ob Beamtenbewerber/innen den lauf­bahn­be­zo­ge­nen fest­ge­leg­ten Anfor­de­run­gen in gesund­heit­li­cher Hin­sicht genü­gen, anders als bei der fach­li­chen Eig­nung kein Beur­tei­lungs­spiel­raum mehr zu (BVerwG v. 25.07.2013 — 2 C 12.11 -, juris Rn 24, 27, BVerw­GE 147, 244; Ände­rung der Recht­spre­chung zu BVerwG v. 18.07.2001 — 2 A 5.00 -, juris Rn. 15, NVwZ-RR 2002, 49). Damit haben die Gerich­te nicht nur die Fra­ge, ob die Beamtenbewerber/innen bei Ein­stel­lung die gesund­heit­li­chen Anfor­de­run­gen erfül­len, son­dern auch die anzu­stel­len­de Pro­gno­se zur gesund­heit­li­chen Eig­nung unein­ge­schränkt zu überprüfen.
  • Die pro­gnos­ti­sche Beur­tei­lung ist auf­grund einer fun­dier­ten medi­zi­ni­schen Tat­sa­chen­grund­la­ge, die von sach­ver­stän­di­gen Ärztinnen/Ärzte ermit­telt wird, zu tref­fen. Auf die­ser Grund­la­ge hat der Dienst­herr die Rechts­fra­ge der gesund­heit­li­chen Eig­nung i.S. des Art. 33 Abs. 2 GG eigen­ver­ant­wort­lich zu ent­schei­den, wobei die Ent­schei­dung des Dienst­herrn voll gericht­lich über­prüf­bar ist (BVerwG v. 25.07.2013 — 2 C 12.11 -, juris Rn. 11, BVerw­GE 147, 244).
  • Ange­sichts der Unsi­cher­hei­ten einer über einen der­art lan­gen Zeit­raum abzu­ge­ben­den Pro­gno­se dür­fen die Anfor­de­run­gen an den Nach­weis der gesund­heit­li­chen Eig­nung nicht über­spannt wer­den. Las­sen sich vor­zei­ti­ge Dienst­un­fä­hig­keit oder krank­heits­be­ding­te erheb­li­che und regel­mä­ßi­ge Aus­fall­zei­ten nach Aus­schöp­fen der zugäng­li­chen Beweis­quel­len weder fest­stel­len noch aus­schlie­ßen („non liquet“), geht dies im Rah­men der Pro­gno­se zu Las­ten des Dienst­herrn (BVerwG v. 25.07.2013 — 2 C 12/11 -, juris Rn 16, 21; aus­drück­lich BVerwG v. 30.10.2013 — 2 C 16.12 -, juris Rn. 28). Auch „nach­hal­ti­ge Zwei­fel“ an der gesund­heit­li­chen Eig­nung rei­chen nicht aus (BVerwG v. 30.10.2013 — 2 C 16.12 -, juris Rn. 29; Ände­rung der Recht­spre­chung zu BVerwG v. 18.07.2001 — 2 A 5.00 -, juris Rn. 15, 19 f., NVwZ-RR 2002, 49). Für den Nach­weis der aktu­el­len gesund­heit­li­chen Eig­nung, d.h. außer­halb der Pro­gno­se, tra­gen die Einstellungsbewerber/innen die mate­ri­el­le Beweis­last (BVerwG v. 11.04.2017 — 2 VR 2.17 -, juris Rn 14; OLG Ber­lin-Bran­den­burg v. 28.03.2018 — OVG 4 B 19.14 -, juris Rn 29). 
Die Klä­ger der vom BVerwG am 25.07.2013 ent­schie­de­nen Revi­si­ons­ver­fah­ren BVerwG 2 C 12.11 und BVerwG 2 C 18.12 waren Leh­rer im Ange­stell­ten­ver­hält­nis. Ihre gesund­heit­li­che Eig­nung für eine Über­nah­me in das Beam­ten­ver­hält­nis auf Pro­be wur­de wegen des gesund­heit­li­chen Risi­kos der vor­zei­ti­gen Pen­sio­nie­rung abge­lehnt. Der Klä­ger im Ver­fah­ren BVerwG 2 C 12.11 war an Mul­ti­pler Skle­ro­se erkrankt, die Klä­ge­rin im Ver­fah­ren BVerwG 2 C 18.12 an der sog. Scheu­er­mann­sche Erkran­kung. Bei bei­den Klä­gern war ein Grad der Behin­de­rung von 30 v.H. fest­ge­stellt, ohne Schwer­be­hin­der­ten gleich­ge­stellt zu sein. Das BVerwG hat auf die Revi­sio­nen die Urtei­le auf­ge­ho­ben und die Ver­fah­ren an das OVG zurück­ver­wie­sen. In dem am 30.10.2013 ent­schie­de­nen Revi­si­ons­ver­fah­ren BVerwG 2 C 16.12 war die zur Beam­tin auf Pro­be ernann­te Klä­ge­rin inner­halb der Pro­be­zeit von Febru­ar 2005 bis Ende 2006 infol­ge von Band­scheib­e­n­er­kran­kun­gen dienst­un­fä­hig erkrankt. Mit der Begrün­dung, die Klä­ge­rin sei gesund­heit­lich unge­eig­net, ent­ließ die Behör­de die Klä­ge­rin. Das BVerwG hat das Urteil auf­ge­ho­ben und das Ver­fah­ren an das OVG zurückverwiesen.

Beur­tei­lungs­maß­stab für die gesund­heit­li­che Eig­nung sind die Anfor­de­run­gen der jewei­li­gen Lauf­bahn. Der Dienst­herr hat in Aus­übung sei­ner Orga­ni­sa­ti­ons­ge­walt die gesund­heit­li­chen Anfor­de­run­gen für die Dienst­aus­übung vor­ab fest­zu­le­gen. Das hat vor allem Bedeu­tung für beson­de­re Lauf­bah­nen, die beson­de­re Anfor­de­run­gen an die kör­per­li­che Eig­nung stel­len wie z.B. die Lauf­bah­nen des Poli­zei­voll­zug­diens­tes oder des Feu­er­wehr­diens­tes. Bei der Fest­le­gung der Anfor­de­run­gen steht dem Dienst­herrn ein wei­ter Ermes­sens­spiel­raum zu (u.a. BVerwG v. 25.07.2013 — 2 C 12.11 -, Rn. 12, BVerw­GE 147, 244; Schles­wig-Hol­stei­ni­sches OVG v. 30.07.2014 -, juris Rn. 47). Unbe­strit­ten ist, dass in der Lauf­bahn des Poli­zei­voll­zugs­dienst beson­de­re Anfor­de­run­gen an die kör­per­li­che Eig­nung zu stel­len sind. Daher müs­sen sich Polizeidienstbewerber/innen für die Beur­tei­lung der gesund­heit­li­chen Eig­nung an einem stren­ge­ren Maß­stab mes­sen las­sen als z.B. die Bewerber/innen für den all­ge­mei­nen Ver­wal­tungs­dienst. Die gesund­heit­li­chen Vor­ga­ben des Dienst­herrn für die Lauf­bah­nen bil­den den Maß­stab, an dem die indi­vi­du­el­le kör­per­li­che Leis­tungs­fä­hig­keit der Bewerber/innen zu mes­sen ist. Beamtenbewerber/innen müs­sen, sofern sie nicht schwer­be­hin­dert sind, für die gesam­te Lauf­bahn und nicht nur für ein­zel­ne Dienst­pos­ten gesund­heit­lich geeig­net sein (BVerwG v. 25.07.2013 — 2 C 12.11 -, juris Rn. 36, BVerw­GE 147, 244). Sofern der Dienst­herr es ver­säumt hat, die lauf­bahn­be­zo­ge­nen Anfor­de­run­gen fest­zu­le­gen, sind allein aus die­sem Grund sei­ne Ent­schei­dun­gen anfecht­bar (Schles­wig-Hol­stei­ni­sches OVG v. 30.07.2014 -, juris Rn. 66, Realschuldienst).

3. Ver­wert­bar­keit ärzt­li­cher Stellungnahmen

In der ärzt­li­chen Stel­lung­nah­me müs­sen die Anknüp­fungs- und Befund­tat­sa­chen dar­ge­stellt, die Unter­su­chungs­me­tho­den erläu­tert und die Hypo­the­sen sowie deren Grund­la­ge offen­ge­legt wer­den. Auf die­ser Grund­la­ge ist unter Aus­schöp­fung der vor­han­de­nen Erkennt­nis­se zum Gesund­heits­zu­stand der Bewer­be­rin oder des Bewer­bers eine Aus­sa­ge über die vor­aus­sicht­li­che Ent­wick­lung des Leis­tungs­ver­mö­gens zu tref­fen. Sta­tis­ti­sche Erkennt­nis­se über den vor­aus­sicht­li­chen Ver­lauf einer Erkran­kung sind nur ver­wert­bar, wenn sie auf einer belast­ba­ren Basis beru­hen. Bei der Fra­ge der Ver­wert­bar­keit der ärzt­li­chen Stel­lung­nah­me ist zu prü­fen, ob Zwei­fel an der Sach­kun­de oder Unpar­tei­lich­keit der Ärz­tin oder des Arz­tes bestehen, ob von zutref­fen­den sach­li­chen Vor­aus­set­zun­gen aus­ge­gan­gen ist und ob die ent­schei­dungs­er­heb­li­chen Fra­gen plau­si­bel und nach­voll­zieh­bar abge­han­delt sind (BVerwG v. 30.10.2013 — 2 C 16.12 -, juris Rn. 31 ff., BVerw­GE 148, 204).

4. Bedeu­tung der neue­ren Rechtsprechung

Ein gro­ßer Teil der Beamtenbewerber/innen, die nach der frü­he­ren Recht­spre­chung wegen feh­len­der gesund­heit­li­cher Eig­nung abge­wie­sen wor­den wären, wer­den heu­te auf­grund des ver­än­der­ten Pro­gno­se­maß­sta­bes mit einer Über­nah­me in das Beam­ten­ver­hält­nis rech­nen können.

Das BVerwG stell­te in sei­nen Urtei­len aus dem Jah­re 2013 fest, dass der auf­ge­ge­be­ne Pro­gno­se­maß­stab das Recht aus Art. 33 Abs. 2 GG auf Zugang zu einem öffent­li­chen Amt unver­hält­nis­mä­ßig ein­ge­schränkt habe (BVerwG v. 30.10.13 — 2 C 16.12 -, juris Rn. 24 f, BVerw­GE 148, 204). Der auf­ge­ge­be­ne Pro­gno­se­maß­stab habe in der Pra­xis dazu geführt, dass Beamtenbewerber/innen ohne Prü­fung ihrer vor­aus­sicht­li­chen gesund­heit­li­chen Ent­wick­lung als unge­eig­net ange­se­hen wor­den sind, weil ihr Gesund­heits­zu­stand vom Regel­zu­stand abwich oder sie in der Pro­be­zeit vor­über­ge­hend erkrank­ten. Dies sei ins­be­son­de­re im Hin­blick auf den lan­gen, sich über Jahr­zehn­te erstre­cken­den Pro­gno­se­zeit­raum und die Unsi­cher­heit medi­zi­ni­scher Pro­gno­sen ange­sichts der Anfor­de­run­gen des Art. 33 Abs. 2 GG unver­hält­nis­mä­ßig. Dies gel­te nicht nur für die Ein­schät­zung der gesund­heit­li­chen Ent­wick­lung und die Kom­ple­xi­tät medi­zi­ni­sche Vor­aus­sa­gen, son­dern auch im Hin­blick auf den medi­zi­ni­schen Fortschritt.

4. Gesund­heit­li­che Eig­nung bei Adi­po­si­tas (Über­ge­wicht)

Die Schluss­fol­ge­run­gen der neue­ren Recht­spre­chung sind für die Fra­ge der gesund­heit­li­chen Eig­nung bei Adi­po­si­tas spür­bar gewor­den. Nach frü­he­rer Recht­spre­chung konn­te bei Adi­po­si­tas ab einem bestimm­ten Body-Maß-Index (BMI) von einer feh­len­den gesund­heit­li­chen Eig­nung aus­ge­gan­gen und die Ein­stel­lung gene­rell ver­wei­gert wer­den. Das betraf Beamtenbewerber/innen mit einem Body-Maß-Index (BMI) von über 30 und umfass­te damit alle Gra­de de Adi­po­si­tas (Adi­po­si­tas Grad I mit einem BMI von 30 bis 34,9; Adi­po­si­tas Grad II bei einem BMI von 35 bis 39,9 und Adi­po­si­tas Grad III bei einem BMI von über 40). 

Auf­grund neue­rer wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis­se kamen der frü­he­ren ober­ge­richt­li­chen Recht­spre­chung aber Zwei­fel, ob der BMI ein geeig­ne­ter und allein aus­rei­chen­der Indi­ka­tor ist, um eine feh­len­de gesund­heit­li­che Eig­nung zu begrün­den. Dies führ­te zuletzt dazu, dass bei einem BMI der Adi­po­si­tas I in die Pro­gno­se­be­ur­tei­lung wei­te­re Risi­ko­fak­to­ren wie z.B. Dia­be­tes, erhöh­te Blut­fett­wer­te, Herz-Kreis­lauf­erkran­kun­gen (Hyper­to­nie) sowie Erkran­kun­gen des Stütz- und Bewe­gungs­sys­tems mit ein­be­zo­gen wer­den muss­ten (OLG NRW v. 16.05.2011 — 1 B 477/11 -, juris Rn 19, 25 ff bei einem BMI von 31,5). Lagen neben einem BMI der Adi­po­si­tas I kei­ne wei­te­ren Risi­ko­fak­to­ren wie z.B. über­ge­wichts­as­so­zi­ier­te Erkran­kun­gen vor, konn­te die gesund­heit­li­che Eig­nung nicht ver­neint und muss­te die Bewer­be­rin oder der Bewer­ber in das Beam­ten­ver­hält­nis auf Pro­be oder Lebens­zeit über­nom­men wer­den (VGH Baden-Würt­tem­berg v. 31.05.2011 — 4 S 187/10 -, juris Rn 30 bei einem BMI von 31,45; BayVGH v. 30.04.2012 — 3 BV 08.405 -, juris Rn 33 ff bei einem BMI von 34,9).

Bei einem BMI ab 35 (Adi­po­si­tas der Gra­de II und III) blieb die frü­he­re ober­ge­richt­li­che Recht­spre­chung jedoch unver­än­dert. Der BMI wur­de wei­ter­hin als geeig­ne­ter und allein aus­rei­chen­der Indi­ka­tor für die feh­len­de gesund­heit­li­che Eig­nung ange­se­hen, ohne — wie bei Adi­po­si­tas I — das Vor­lie­gen wei­te­rer Risi­ko­fak­to­ren zu for­dern (OVG Lüne­burg v. 31.07.2012 — 5 LC 216/10 -, juris Rn 102 ff bei einem BMI von 45; OVG NRW v. 08.11.2012 — 6 A 1495/12 -, juris Rn 5 ff bei einem BMI von 34,5; Säch­si­sches OVG v. 12.09.2013 — 2 B 431/13 -, juris Rn 12, 14 bei einem BMI ab 35). 

Dazu erklär­te das BVerwG im Zusam­men­hang mit sei­ner geän­der­ten Recht­spre­chung, dass die gesund­heit­li­che Eig­nung von Beamtenbewerber/innen nicht auf­grund eines Ver­gleichs ver­schie­de­ner Per­so­nen­grup­pen oder ver­schie­de­ner gesund­heit­li­cher Risi­ken zu beur­tei­len sei (BVerwG v. 13.12.2013 — 2 B 37.13 -, juris Rn 8 bei BMI von 37,5). Viel­mehr set­ze eine nega­ti­ve Eig­nungs­pro­gno­se vor­aus, dass auf­grund tat­säch­li­cher Anhalts­punk­te eine Pro­gno­se gestellt wer­den kön­ne, nach der die Bewerber/innen mit über­wie­gen­der Wahr­schein­lich­keit vor Errei­chen der gesetz­li­chen Alters­gren­ze wegen Dienst­un­fä­hig­keit in den Ruhe­stand ver­setzt oder bis dahin über Jah­re hin­weg regel­mä­ßig krank­heits­be­dingt aus­fal­len und des­halb eine erheb­lich gerin­ge­re Lebens­dienst­zeit auf­wei­sen wer­den. Dies kom­me ins­be­son­de­re für Ange­hö­ri­ge einer Risi­ko­grup­pe in Betracht, die an einer Krank­heit lei­den, auf­grund derer das Risi­ko, wegen Dienst­un­fä­hig­keit in den Ruhe­stand ver­setzt zu wer­den oder regel­mä­ßig krank­heits­be­dingt aus­zu­fal­len, deut­lich erhöht sei. Die gesund­heit­li­che Eig­nungs­pro­gno­se sei dabei auf einer fun­dier­ten medi­zi­ni­schen Tat­sa­chen­grund­la­ge zu treffen. 

Der Ent­schei­dung des BVerwG lag der Fall einer Beam­tin auf Pro­be zugrun­de, die wegen Über­ge­wicht (BMI von 37,5) für eine Lebens­zeit­ver­be­am­tung als nicht gesund­heit­lich geeig­net beur­teilt und aus dem Beam­ten­ver­hält­nis auf Pro­be ent­las­sen wor­den war, obschon sie aktu­ell voll dienst­fä­hig war und kei­ner­lei krank­heits­be­ding­te Fehl­zei­ten auf­wies. Das BVerwG hob das vor­ge­hen­de Urteil des Schles­wig-Hol­stei­ni­schen OVG auf und wies die Rechts­sa­che an das OVG zurück. Dar­auf­hin wies das OVG auf der Grund­la­ge der neue­ren Recht­spre­chung des BVerwG die Beru­fung des Dienst­herrn zurück, so dass der Dienst­herr ver­pflich­tet war, unter Beach­tung der Rechts­auf­fas­sung des Gerichts die Klä­ge­rin neu zu beschei­den (Schles­wig-Hol­stei­ni­sches OVG v. 30.7.2014 — 2 LB 2/14 -, juris).

Das OVG Saar­land hat inzwi­schen fest­ge­stellt, dass die frü­he­re ober­ge­richt­li­che Recht­spre­chung, wonach ein BMI von mehr als 35 ein taug­li­cher und allein aus­rei­chen­der Indi­ka­tor für die man­geln­de gesund­heit­li­che Eig­nung von Beamten/innen dar­stel­le, ange­sichts der neue­ren Recht­spre­chung des BVerwG über­holt ist (OVG Saar­land v. 14.05.2019 — 1 A 102/16 -, juris Rn 78 ff bei einem BMI von 39,45). Allein die Zuge­hö­rig­keit einer zum Zeit­punkt der Ein­stel­lungs­un­ter­su­chung unein­ge­schränkt leis­tungs­fä­hi­gen Beam­tin zu einer bestimm­ten Per­so­nen­grup­pe — hier der über­ge­wich­ti­gen Men­schen -, die auf­grund von Typi­sie­run­gen und sta­tis­ti­schen Wahr­schein­lich­kei­ten in ihrer Gesamt­heit ein erhöh­tes Risi­ko vor­zei­ti­ger Dienst­un­fä­hig­keit auf­weist, kön­ne nach der neue­ren Recht­spre­chung des BVerwG nicht die Annah­me der feh­len­den indi­vi­du­el­len gesund­heit­li­chen Eig­nung eines jeden Grup­pen­an­ge­hö­ri­gen tra­gen. Auch bei einem aus­ge­präg­ten Über­ge­wicht mit einem BMI von über 35 müs­se eine gesund­heit­li­che Nicht­eig­nung durch eine fun­dier­te medi­zi­ni­sche Begut­ach­tung hin­sicht­lich des indi­vi­du­el­len gesund­heit­li­chen Gesamt­zu­stan­des und auf­grund kon­kre­ter Erkran­kungs­ri­si­ken belast­bar belegt wer­den. In die Begut­ach­tung und Pro­gno­se sei­en sämt­lich Ein­zel­um­stän­de, unter ande­rem eine erb­li­che Dis­po­si­ti­on, das Lebens­al­ter sowie die Fra­ge, ob typi­sche Fol­ge­er­kran­kun­gen — Dia­be­tes, Hyper­to­nie — vor­lie­gen, einzubeziehen.

Aus der ver­än­der­ten Recht­spre­chung kann fol­gen­de Schluss­fol­ge­rung gezo­gen wer­den: Will der Dienst­herr die gesund­heit­li­che Eig­nung von Beamtenbewerber/innen wegen Adi­po­si­tas ver­nei­nen, muss er unab­hän­gig vom jewei­li­gen Schwe­re­grad der Adi­po­si­tas und bezo­gen auf den ein­zel­nen Fall gewich­ti­ge medi­zi­ni­sche Grün­de dafür vor­brin­gen, dass das Über­ge­wicht mit über­wie­gen­der Wahr­schein­lich­keit zu einer vor­zei­ti­gen Ver­set­zung in den Ruhe­stand oder zu erheb­li­che Aus­fall­zei­ten bis zum Errei­chen der gesetz­li­chen Alters­gren­ze führt. Dabei kann der Dienst­herr sich nicht mehr nur allein auf das Über­ge­wicht, den Body-Maß-Index und all­ge­mei­ne sta­tis­ti­sche Erkennt­nis­se stüt­zen, son­dern muss auf der Grund­la­ge einer fun­dier­ten medi­zi­ni­schen Begut­ach­tung wei­te­re indi­vi­du­el­le gesund­heit­li­che Aspek­te und Erkran­kungs­ri­si­ken in sei­ne Ent­schei­dung mit ein­be­zie­hen. Das gilt jetzt unter­schieds­los für alle Schwe­re­gra­de der Adipositas.

In die­sem Zusam­men­hang ist auch das Urteil des EuGH vom 18.12.2014 — C‑354/13 — (NJW 2015, 391) von Bedeu­tung, nach dem die Adi­po­si­tas einer Arbeit­neh­me­rin oder eines Arbeit­neh­mers eine Behin­de­rung im Sin­ne der Richt­li­nie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 dar­stel­len kann (noch ver­neint von OVG Lüne­burg v. 31.07.2012 — 5 LC 216/10 -, juris Rn 72 ff bei einem BMI von 45). Vor­aus­set­zung für das Vor­lie­gen einer Behin­de­rung ist aber, dass eine Adi­po­si­tas Arbeitnehmer/innen dar­an hin­dert, am Berufs­le­ben gleich­be­rech­tigt mit den ande­ren Arbeitnehmer/innen unein­ge­schränkt teil­zu­neh­men. Bei Zuer­ken­nung der Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft fin­det zuguns­ten der Beamtenbewerber/innen ein abge­senk­ter Pro­gno­se­maß­stab Anwen­dung, was den Pro­gno­se­zeit­raum betrifft. Für Schwer­be­hin­der­te gilt in der Regel nur ein Pro­gno­se­zeit­raum von fünf Jahren.

4. Gesund­heit­li­che Eig­nung für den Polizeivollzugsdienst/PDV 300

Der Poli­zei­voll­zugs­dienst ist mit beson­de­ren kör­per­li­chen und gesund­heit­li­chen Anfor­de­run­gen ver­bun­den, die über die Anfor­de­run­gen für den all­ge­mei­nen Ver­wal­tungs­dienst hin­aus­ge­hen. Die Poli­zei­dienst­vor­schrift 300 ” Ärzt­li­che Beur­tei­lung der Poli­zei­dienst­taug­lich­keit und der Poli­zei­dienst­fä­hig­keit” — PDV 300 — kon­kre­ti­siert die gesund­heit­li­chen Eig­nungs­vor­aus­set­zun­gen oder Anfor­de­run­gen für die Poli­zei­voll­zugs­diens­te von Bund und Län­dern. Die PDV 300 ent­hält Kri­te­ri­en, die die Poli­zei­dienst­fä­hig­keit und die Poli­zei­dienst­taug­lich­keit ausschließen. 

Es ist im Grund­satz unbe­strit­ten, dass bei Anwen­dung der PDV 300 die neue­re Recht­spre­chung des BVerwG zur gesund­heit­li­chen Eig­nung zu beach­ten ist (vgl. u.a. VG Ber­lin v. 22.01.2014 — 7 K 117.13 -, juris Rn 22 zu Brust­im­plan­tat; OVG Sach­sen-Anhalt v. 14.07.2014 — 1 M 69/14 -, juris Rn. 9; Säch­si­sches OVG v. 08.11.2016 — 2 A 484/15 -, juris Rn 21 zu chro­ni­scher Erkran­kung eines Ver­dau­ungs­or­gans; OVG Ber­lin-Bran­den­burg v. 28.03.2018 — OVG 4 B 19.14 -, juris Rn 30 zu Brust­im­plan­tat; OVG NRW v. 30.11.2017 — 6 A 2111/14 -, juris Rn 93 zu Kreuz­ban­der­satz­plas­tik; BayVGH v. 25.01.2019 — 6 CE 18.2481 -, juris Rn 10 zu Farb­fehl­sich­tig­keit; VG Köln v. 23.08.2019 — 19 K 5922/17 -, juris Rn 23 zu Nie­ren­stein­dia­the­se; a. A. für den Fall, dass kei­ne Pro­gno­se­ent­schei­dung zu tref­fen ist BayVGH v. 15.01.2014 — 3 ZB 13.1074 -, juris Rn 13 zu Schielen/Beeinträchtigung des räum­li­chen Sehens): Polizeidienstbewerber/innen fehlt die gesund­heit­li­che Eig­nung für den Poli­zei­voll­zugs­dienst, wenn sie bei der Ein­stel­lungs­un­ter­su­chung poli­zei­dienst­un­fä­hig sind oder wenn tat­säch­li­che Anhalts­punk­te die Annah­me recht­fer­ti­gen, dass sie mit über­wie­gen­der Wahr­schein­lich­keit vor Ein­tritt in den gesetz­li­chen Ruhe­stand­dau­ernd poli­zei­dienst­un­fä­hig wer­den oder bis dahin erhöh­te Aus­fall­zei­ten auf­wei­sen. Für die Beur­tei­lung der Poli­zei­dienst­fä­hig­keit und der Poli­zei­dienst­taug­lich­keit steht dem Dienst­herrn nach der neue­ren Recht­spre­chung kein Beur­tei­lungs­spiel­raum mehr zu. Die Ent­schei­dun­gen sind damit unein­ge­schränkt gericht­lich über­prüf­bar. Im Unter­schied zur frü­he­ren Recht­spre­chung reicht es nicht mehr aus, für die gesund­heit­li­che Nicht­eig­nung auf einen abso­lu­ten Aus­schluss­grund der PDV 300 zu ver­wei­sen (vgl. u.a. VG Ber­lin v. 22.01.2014 — 7 K 117.13 -, juris Rn 23 zu Brust­im­plan­tat; VG Würz­burg v. 21.08.2014 — W 1 E 14.733 -, juris Rn 23 zu Zustand nach Augen­la­ser­kor­rek­tur; Schles­wig-Hol­stei­ni­sches VG v. 21.02.2018 — 12 B 17/18 -, juris Rn 27 zu Zustand nach ope­rier­ter Achil­les­seh­nen­rup­tur; VG Bay­reuth v.23.10.2019 — B 5 E 19.867 -, juris Rn 26 zu Kurz­sich­tig­keit). Aus dem Umstand, dass eine Erkran­kung in der PDV 300 auf­ge­führt ist, kann nicht mehr ohne wei­te­re indi­vi­du­el­le Prü­fung auf die Poli­zei­dienst­un­taug­lich­keit geschlos­sen wer­den (Säch­si­sches OVG v. 08.11.2016 — 2 A 484/15 -, juris Rn 21 betref­fend chro­ni­sche Erkran­kung des Ver­dau­ungs­or­gans). Nach der neue­ren Recht­spre­chung ist im Unter­schied zu frü­her stets eine indi­vi­du­el­le Prü­fung auf der Grund­la­ge einer fun­dier­ten medi­zi­ni­schen Begut­ach­tung der Bewer­be­rin oder des Bewer­bers erfor­der­lich (vgl. u.a. Säch­si­sches OVG v. 08.11.2016 — 2 A 484/15 -, juris Rn 23 zu chro­ni­scher Erkran­kung des Ver­dau­ungs­or­gans; OVG Ber­lin-Bran­den­burg v. 28.03.2018 — OVG 4 B 19.14 -, juris Rn 30 zu Brustimplantat).

Unver­än­dert gilt — auch nach der neue­ren Recht­spre­chung des BVerwG -, dass der Dienst­herr die kör­per­li­chen Anfor­de­run­gen der jewei­li­gen Lauf­bahn auf der Grund­la­ge eines wei­ten Ermes­senspiel­raums zu bestim­men hat (BVerwG v. 25.07.2013 — 2 C 12/11 -, juris Rn 12). Dar­an anknüp­fend wer­den in der ober­ge­richt­li­chen Recht­spre­chung zur Fra­ge, ob und inwie­weit die Gerich­te an die Fest­le­gun­gen in der PDV 300 gebun­den sind, zwei unter­schied­li­che Auf­fas­sun­gen vertreten:

  • Nach der ers­ten Auf­fas­sung legt die PDV 300 kei­ne kör­per­li­chen Anfor­de­run­gen für den Poli­zei­voll­zugs­dienst fest, son­dern benennt nur die gesund­heit­li­chen Grün­de, war­um Bewerber/innen den zuvor an ande­rer Stel­le fest­ge­leg­ten oder vor­aus­ge­setz­ten kör­per­li­chen Anfor­de­run­gen nicht gewach­sen sein sol­len. Die­se Grün­de und damit die PDV 300 sind gericht­lich voll über­prüf­bar, da sie nicht dem Beur­tei­lungs­spiel­raum des Dienst­herrn unter­lie­gen. Eine Bin­dung der Gerich­te an die Aus­schluss­grün­de der PDV 300 besteht daher nicht (VG Ber­lin v. 22.01.2014 — 7 K 117.13 -, juris Rn 25, betref­fend Brust­im­plan­ta­te; bestä­ti­gend OVG Ber­lin-Bran­den­burg v. 28.03.2018 — OVG 4 B 19.14 -, juris Rn 30). Das gilt für die Fra­ge, ob Bewerber/innen aktu­ell poli­zei­dienst­fä­hig sind, wie auch für die Beur­tei­lung der Poli­zei­dienst­taug­lich­keit durch eine Eig­nungs­pro­gno­se. Das Tra­gen von Brust­im­plan­ta­ten stell­te bis zur Neu­fas­sung der PDV 300 zum 01.01.2021 einen abso­lu­ten Aus­schluss­grund dar. Da es sich nach Auf­fas­sung des VG Ber­lin dabei aber nicht um eine kör­per­li­che Anfor­de­rung han­del­te, die der Dienst­herr im Rah­men sei­nes wei­ten Ermes­senspiel­raums bestim­men kann, war das Gericht an die Fest­le­gung der damals gel­ten­den PDV 300 nicht gebun­den und konn­te den Aus­schluss­grund in Fra­ge stellen. 
  • Nach der zwei­ten mehr­heit­lich ver­tre­te­nen Auf­fas­sung hat der Dienst­herr die kör­per­li­chen Anfor­de­run­gen für den Poli­zei­voll­zugs­dienst in Aus­übung sei­ner Orga­ni­sa­ti­ons­ge­walt zumin­dest teil­wei­se in der PDV 300 fest­ge­legt (BayVGH v. 25.01.2019 — 6 CE 18.2481 -, juris Rn 13 f, zu Schielen/Beeinträchtigung des räum­li­chen Sehens und vom 25.01.2019 — 6 CE 18.2481 -, juris Rn 10 ff zu Farb­fehl­sich­tig­keit; VG Karls­ru­he v. 31.07.2014 — 2 K 1762/13 -, juris Rn 28 ff zu Bein­ve­nen­throm­bo­se und v. 10.10.2019 — 10 K 3760/16 -, juris Rn 33 ff zu Hör­min­de­rung; VG Düs­sel­dorf v. 18.09.2015 — 2 K 83/15 -, juris Rn 53 zu Schild­drü­sen­er­kran­kung und v. 18.09.2018 — 2 L 2665/18 -, juris Rn 38 f zu Lak­to­se­into­le­ranz; VG Ans­bach v. 19.03.2019 — AN 1 E 19.00295 -, juris Rn 99 zu Trom­mel­fell­de­fekt; VG Köln v. 23.08.2019 — 19 K 5922/17 -, juris Rn 27 zu Nie­ren­stein­dia­the­se; VG Bay­reuth v. 18.02.2020 — B 5 K 18.929 -, juris Rn 31, 33 ff zu Farb­seh­schwä­che; VG Min­den v. 21.09.2020 — 12 L 727/20 -, juris Rn 62, 78 ff zu Kurz­sich­tig­keit). Das bedeu­tet, dass die Gerich­te teil­wei­se an die Fest­le­gun­gen der PDV 300 wei­ter­hin gebun­den sind und sie inso­weit nur über­prü­fen kön­nen, ob der Dienst­herr sei­nen Beur­tei­lungs­spiel­raum ermes­sens­feh­ler­frei aus­ge­übt hat.
Bei der prak­ti­schen Anwen­dung der PDV 300 unter­schei­det die zwei­te Auf­fas­sung nach der Ziel­rich­tung der Aus­schluss­kri­te­ri­en wie folgt: a) Aus­schluss­kri­te­ri­en der PDV 300, die die kör­per­li­chen Anfor­de­run­gen fest­le­gen, die Bewerber/innen bei der Ein­stel­lung aktu­ell erfül­len müs­sen und b) Aus­schluss­kri­te­ri­en der PDV 300, die auf der Grund­la­ge einer Eig­nungs­pro­gno­se zukunfts­be­zo­gen sicher­stel­len sol­len, dass die Beamtinnen/Beamten bis zur gesetz­li­chen Alters­gren­ze dienst­fä­hig blei­ben. Wei­sen Kri­te­ri­en der PDV 300 einen Dop­pel­cha­rak­ter auf, ist im Ein­zel­fall zu prü­fen, mit wel­cher Ziel­rich­tung das Kri­te­ri­um her­an­ge­zo­gen wur­de. Bei den ein­stel­lungs­be­zo­ge­nen Kri­te­ri­en zu a) han­delt es sich um kör­per­li­che Anfor­de­run­gen, die der Dienst­herr im Rah­men sei­nes Beur­tei­lungs­spiel­raums fest­legt und die daher gericht­lich nur ein­ge­schränkt über­prüf­bar sind. Nach bis­he­ri­ger Recht­spre­chung sind ein­stel­lungs­be­zo­ge­ne Kri­te­ri­en ins­be­son­de­re Kri­te­ri­en, die das das Hör- oder Seh­ver­mö­gen betref­fen. Bei den zukunfts­be­zo­ge­nen Kri­te­ri­en zu b) fin­det die neue­re Recht­spre­chung des BVerwG Anwen­dung, d.h. dem Dienst­herrn steht inso­weit kein Beur­tei­lungs­spiel­raum zu, so dass die zukunfts­be­zo­ge­nen Kri­te­ri­en der PDV 300 gericht­lich voll über­prüf­bar sind. Auf die Eig­nungs­pro­gno­se fin­det der Pro­gno­se­maß­stab der neue­ren Recht­spre­chung Anwen­dung. Zu der Dif­fe­ren­zie­rung im Ein­zel­nen vgl. ins­be­son­de­re das Urteil des VG Karls­ru­he v. 10.10.2019 — 11 K 3760/16 -, juris Rn 34 ff zu einer Hör­min­de­rung und den Beschluss des VG Min­den v. 21.09.2020 — 12 L 727/20 -, juris Rn 80 ff zu einer Seh­schwä­che. Zu beach­ten ist, dass nach der zwei­ten Auf­fas­sung nur das ein­stel­lungs­be­ding­te Kri­te­ri­um der PDV 300 selbst ein­ge­schränkt gericht­lich über­prüf­bar ist. Die im zwei­ten Schritt zu klä­ren­de Fra­ge, ob die Bewer­be­rin oder der Bewer­ber den Aus­schluss­grund der PDV 300 erfüllt, ist durch eine fun­dier­te medi­zi­ni­sche Begut­ach­tung fest­zu­stel­len und gericht­lich voll über­prüf­bar (vgl. VG Bay­reuth v. 18.02.2020 — B 5 K 18.929 -, juris Rn 33 zu Farb­seh- und Däm­me­rungs­seh­schwä­che; VG Min­den v. 21.09.2020 — 12 L 727/20 -, juris Rn 91 zu Sehschwäche). 

Bei­de Ansich­ten stim­men dar­in über­ein, dass die Poli­zei­dienst­fä­hig­keit bei Bewerber/innen für den Poli­zei­voll­zugs­dienst in zwei­er­lei Hin­sicht zu über­prü­fen ist: Zum einen aktu­ell bezo­gen auf den Ein­stel­lungs­ter­min, zum andern zukunfts­be­zo­gen auf die künf­ti­ge Tätig­keit (vgl. VG Düs­sel­dorf v. 04.08.2020 — 2 L 1303/20 -, juris Rn 8 zu Nah­rungs­mit­tel­un­ver­träg­lich­keit). Ist die Bewer­be­rin oder der Bewer­ber zum Zeit­punkt der Ein­stel­lungs­un­ter­su­chung nicht poli­zei­dienst­fä­hig, dür­fen sie oder er nicht ein­ge­stellt wer­den. Ist die Bewer­be­rin oder der Bewer­ber aktu­ell poli­zei­dienst­fä­hig, gehö­ren sie oder er aber einer Risi­ko­grup­pe an oder liegt eine chro­ni­sche Erkran­kung mit pro­gre­di­en­tem Ver­lauf vor, bedarf es einer Pro­gno­se durch eine fun­dier­te medi­zi­ni­sche Begut­ach­tung nach den Grund­sät­zen der neue­ren Recht­spre­chung des BVerwG (vgl. u.a. VG Mün­chen v. 26.07.2016 — M 5 K 15.5658 -, juris Rn 19 ff zu Krampf­adern; Säch­si­sches OVG v. 08.11.2016 — 2 A 484/15 -, juris Rn 21, 23 zu chro­ni­scher Erkran­kung eines Ver­dau­ungs­or­gans; VGH Baden-Würt­tem­berg v. 16.01.2017 — 4 S 394/15 -, juris Rn 23, 36 ff zu Bein­ve­nen­throm­bo­se; OVG NRW v. 30.11.2017 — 6 A 2111/14 -, juris Rn 95 ff zu Kreuz­ban­der­satz­plas­tik; VG Han­no­ver v. 18.07.2019 — 13 A 2059/17 -, juris Rn 31 ff zu HIV-Infek­ti­on; VG Koblenz v. 23.08.2019 — 2 L 802/19.KO -, juris Rn 9, 16 f zu Lak­to­se­un­ver­träg­lich­keit; VG Bay­reuth v. 23.10.2019 — B 5 E 19.867 — juris Rn 23 ff zu beho­be­ner Kurz­sich­tig­keit nach Laser­kor­rek­tur; VG Gie­ßen v. 17.09.2014 — 5 K 1123/13 GI -, juris Rn 17 ff zu Mor­bus Meu­len­gracht und v. 10.09.2020 — 5 K 1274/18 GI -, juris Rn 30 ff zu remit­tier­ter ADHS-Symptomatik).